KOMPOSITIONEN

Bernd Wolfgang Lindemann | Zum Werk von Uschi Niehaus

Die Künstlerin, der Ausstellung und dieser Katalog gewidmet sind, stammt aus Enger in Westfalen. Ausgebildet wurde sie jedoch in Berlin, in den achtziger Jahren an der Hochschule der Künste (heute Universität der Künste). 1986 wurde sie Meisterschülerin von Marwan; von ihm spricht sie immer noch voller Hochachtung.
Stellte man Arbeiten von Marwan und Uschi Niehaus nebeneinander, so könnten diese auf den ersten Eindruck gegensätzlicher kaum erscheinen. Und doch lassen sich bis heute Verbindungen nachweisen, trotz des entschieden eigenen Weges, den Uschi Niehaus ging und der sie bereits zu mehreren Preisen geführt hat. Bei einem meiner Besuche in ihrem Luckenwalder Atelier stieß ich auf ein kleinformatiges Gemälde, das ein Stilleben zeigt. Als gelernter Altmeister-Kurator musste dies selbstverständlich meine Aufmerksamkeit erregen; also erkundigte ich mich bei der Künstlerin, was es damit auf sich habe. Uschi Niehaus sagte, es stamme von ihr, aus ihrer Zeit an der Hochschule, aus ihren Lehrjahren bei Marwan. Er habe größten Wert darauf gelegt, dass die bei ihm Lernenden sich arbeitend mit der Tradition der europäischen Malerei auseinandersetzten – auch hinsichtlich Gattung und Technik. Und wie Marwan sich regelmäßig mit dem Gegenstand beschäftigte – neben dem menschlichen Gesicht eben auch mit dem Stilleben –, so bindet auch Uschi Niehaus ihr Werk immer wieder zurück an die Natur oder geht in ihrem Schaffen von dieser aus. Hierzu gehört auch, dass sie vor der Natur zeichnet. Werke wie  „IndenBirken“ oder „Erzählungen aus der Natur“ entstehen dann im Atelier, auch in Kombination von Zeichnung und dem mechanischen Medium der Photographie. Uschi Niehaus liebt es, unter anderem durch Fenster fahrender Züge zu photographieren, um diese Photos, durch die Bewegung bereits verfremdet, in ihren Arbeiten weiterzuverwenden.
Neben ihrem Lehrer Marwan nennt Uschi Niehaus als Vorbilder Künstler wie Henri Matisse oder Paul Cézanne (der in seinen Stilleben bekanntermaßen den Kubismus vorzubereiten half), aber auch Max Beckmann. Begreiflich auch die Faszination, die Arbeiten von Claude Monet und William Turner auf die Künstlerin ausübten, waren diese beiden doch Künstler, die das Reale, die Landschaft, auf ihren Bildern zu eindrücklichen Farbereignissen umformten. Das Gemälde „See“ oder die aquarellierten Seerosen von Uschi Niehaus lassen sich durchaus als Reverenz an die späten Arbeiten von Claude Monet verstehen. Hann Trier ist noch zu nennen, in Berlin, im Schloss Charlottenburg, durch sein Antoine Pesnes Fresko nicht rekonstruierendes, aber doch nachschaffendes, abstraktes Plafondbild stets vor Augen sowie, auch dies kein Zufall, Cy Twombly, in dessen Arbeiten sich vergleichbar kalligraphische Setzungen finden, wie wir sie auch bei Niehaus antreffen. Dass Karl Blossfelds nahsichtige Photographien als Anregung in Frage kommen, ist absolut nachvollziehbar; dass aber Uschi Niehaus auch Giotto als wichtige Bezugsgröße nennt, mag zunächst überraschen – sie teilt diese Faszination aber mit niemand geringerem als Mark Rothko. Für Giorgio Vasari, einem der Urväter der Kunstgeschichte, war Giotto der eigentliche Begründer der Renaissance; und vor seinen Bildern, in der Berliner Gemäldegalerie oder in der Arenakapelle in Padua, ist zu bestaunen, wie er durch  neuartiges Arbeiten mit Farbe und Form die Figuren seiner Bilder als gleichsam atmende Volumina definierte.
Und schließlich John Cage, den Uschi Niehaus ebenfalls als Vorbild nennt. Hier gelangen wir zu einer weiteren Sphäre der Kunst, zur Musik. Wie wichtig diese für die Künstlerin ist, können wir tatsächlich sehen: In den Arbeiten, die hier unter dem Generalthema „Gesang“ zusammengefasst sind. Sie tragen Titel wie „Cantus firmus“, „Solo für Stimme“ oder  „Liebeslied“. Und wenn eine Komposition (!) „Partitur für freie Musik“ heißt, so darf sich vielleicht ein Musiker aufgefordert fühlen, ein solches Bild zu „spielen“, in Musik (rück-)zuübersetzen. In der Serie „Lied der Birke“ verbindet sich Musik als wichtiges Element mit der für Uschi Niehaus ebenso bedeutenden Motivik, der Natur. Gleiches ist der Fall in den „Canto dei fiori morti“ („Lied der toten Blumen“) betitelten Blättern. Tatsächlich hört die Künstlerin während der Arbeit Musik; dass Arbeiten „Schubert“, „Bach“ oder „Mozart“ betitelt sind, kann nicht überraschen. Hörbares wird auch zum Gegenstand der Serie „Vom Reden und vom Schweigen“, zum Teil großformatige Werke mit Titeln wie „Gebet“, „Raunen“, „Schweigen“, „Rumor“, „Prolog“ und „Epilog“. „Gebet“, Schweigen“ und „Durchwachte Nacht“ sind Arbeiten mit unterschiedlich abgetöntem blauem Fond. Denken wir über die räumliche Wirkung von Farben und deren Effekt auf die Stimmung des Betrachters nach: dieses Blau ist wohl die fernste und zugleich stillste aller möglichen Farben – und wenn „Raunen“ ebenso wie „Rumor“ farblich anders daherkommen, so wird dies schon seine Gründe haben… Ganz minimalistisch, und klein im Format!, geht es dann im „Geflüster“ zu.
Uschi Niehaus ist Malerin. Diese Feststellung ist wichtig, weil erst vor diesem Hintergrund auch jene Arbeiten begreiflich werden, bei denen sie die strikte Bindung an die Fläche verlässt, wo sie kollagiert sowie mit Papierspiralen oder Rollen aus Transparentpapier (in den Serien „Trilogie“ „Und wie begegne ich Dir“ oder „Cartes de Tendre“) in den Raum vor dem Bild ausgreift. Doch auch in den Werken, die dem Gesetz der Zweidimensionalität unterworfen bleiben, arbeitet Niehaus nicht herkömmlich mit Pinsel und Palette: „S/W“, um ein Beispiel zu nennen, ist unmittelbar, scheinbar monochrom aufgetragenes Pigment, Urmaterial des Malens also, doch dazu und darin kommen Stift und Messer zum Einsatz.
Niehaus ist es wichtig, dass sie nicht singuläre Kunstwerke produziert, sondern Serien kreiert; Katalog und Ausstellung bieten hierfür unseren Augen wunderbaren Stoff. Auch die großformatige Arbeit „Von heimlichen Rosen 1“ ist im Grunde diesem Prinzip verpflichtet: Der Begriff „Komposition“ ist hier besonders treffend: Aus neun Leinwänden ist das Werk „zusammengesetzt“, und diese neun einzelnen Objekte bleiben als Teile erkennbar, obwohl sie ein Ganzes bilden. Die mit Acryl farblich rhythmisierten Flächen sind aneinandergefügt und werden, im ästhetischen Sinn und eben nicht mechanisch, durch kurvig geführte Kohlestriche miteinander verbunden. Ähnlich vollzieht sich dies in der Arbeit „Von heimlichen Rosen 2“ oder in „Von heimlichen Rosen 3“, das ebenso wie „Von heimischen Rosen 4“ aus zehn Teilen besteht. Letzteres ist eine Arbeit auf Papieren; diese sind auf Abstand montiert, wobei die schmalen verbliebenen Räume zwischen den Blättern wie eine die Komposition überlagernde Gitterstruktur erscheinen. Vergleichbar sind die unter „Lamento“ zusammengefassten Werke.
Die Arbeiten der Serien „Cartes des Tendre“ und „Cantus Firmus“ spielen, im wörtlichen Sinne, mit objets trouvés. Uschi Niehaus empfand die hier nicht nur als Bildträger, sondern auch als Bildteilhaber fungierenden Seekarten als eigentümlich reizvoll. In der Tat sind es technisch-graphische Meisterwerke (wenn auch Massenprodukt), und der Blick auf eine solche Karte vermag Assoziationen auszulösen, womöglich bei jedem andere: Wasser, Reisen, Fernweh, Gefahr… Die Künstlerin ergänzt die topographischen Angaben, dabei sich deren Rhythmus aussetzend, mit zeichenhaften Formulierungen aus, unter anderem, Ölkreide, Stift, Pigment oder auch aus papierenen Spiralen. Wer sie in ihrem Atelier besucht und ihr zuhört, wenn sie über ihre Kunst spricht, der begreift, dass vieles an diesen Arbeiten auf Experimentieren zurückgeht, auf Spielen mit diesen Bestandteilen, auf Ausprobieren, was herauskommt, wenn…

Ganz selten übrigens steht unter den Bildern von Uschi Niehaus „o.T.“ – ohne Titel; in den allermeisten Fällen gibt sie ihren Arbeiten Namen, oft mit poetischem Reiz oder gewollt eigenwilliger Orthographie („IndenBirken“). Sie reiht sich hier ein in die seit dem 19., vor allem aber im 20. Jahrhundert fortlebende Tradition, Bildern nicht nur Titel zu geben, sondern diese „Taufe“ als zusätzlichen kreativen Akt zu verstehen – Paul Klee und René Magritte waren hierin besonders phantasiereich. „Ein Titel“, sagt Umberto Eco, „ist leider bereits ein Schlüssel zu einem Sinn“ – wie aber dieser Schlüssel zum jeweiligen Schloss passt, das müssen wir