LOST IN NATURE

Frizzi Krella | 2018

Berlin lag bereits hinter mir, ich fuhr über Land gen Süden, immer geradeaus, durch die flache Ebene Brandenburgs, durch das Sandertal der Nuthe. Drei Wasser hatte ich überquert, das Steinerflies, den Königsgraben und die Nuthe, als ich in Luckenwalde einfuhr, den Großstadtlärm hinter mir lassend, das hastige Leben und die 1001 Ablenkung.
Im zweiten Stockwerk einer ehemaligen Tuchfabrik hat die Berliner Künstlerin Uschi Niehaus ihr Atelier. Zwischen hohen Pfeilern der lichten Fabriketage erstreckt sich der Raum, wo in den letzten fünf Jahren ihre Bilder entstanden, pendelnd zwischen Berlin und dort. Es sind großformatige Zeichnungen und Tableaus, die sich aus zwei bis zwölf Einzelbildern zusammensetzen. Aber auch ganz kleine Formate wählt die Künstlerin, die quasi aus dem Impuls des Handgelenks heraus gezeichnet werden, Niederschriften, Collagen und Fotoübermalungen, gelegt oder geklebt.
Die Zeichnerin Uschi Niehaus arbeitet seriell, diese Serien können 50-100 Zeichnungen oder auch ganze Bücher umfassen.

Als ehemalige Meisterschülerin von Marwan an der Hochschule der Künste im damaligen Westberlin
weiß Niehaus um die Tiefe und Ausdruckskraft seiner Gesichtslandschaften, in die sich die Brüche des Lebens eingruben, die Narben der erlebten Zeit, von denen Matthias Flügge einmal treffend schrieb: „...wenn Marwan Gesichter malt, malt er zugleich Malerei“. Während sie vor allem die Sinnlichkeit und Farbigkeit seiner Malerei schätzte, besonders auch in den späten Stillleben, löste Cy Twombly in ihr das entscheidende Initiationserlebnis aus. Den Akt des Zeichnens als eine Art Spurensuche zu verstehen, gab ihr in ihren künstlerischen Untersuchungen einen wesentlichen Impuls.

Ihre Bilder vereinen die Züge einer abstrakten, flächenfüllenden Malerei, die vielleicht ihre Verehrung für die Malerei Brice Mardens zum Ausdruck bringt, mit schriftzugartigen Zeichnungen, rhythmischen Kritzeleien, Kreisen, Schleifen, Kürzeln, Gedanken und Blüten. Daraus entwickelt sie ihr eigenes Zeichensystem und Formenvokabular, das im Laufe der Zeit in ihrem Werk immer deutlicher lesbar wird.
Wenn man dem Gedanken folgt, den Brice Marden einmal formulierte, dass Abstraktion der Versuch sei, „von der Literatur wegzukommen und zur Dichtung zu gelangen“, sind wir eben auch bei Uschi Niehaus. Für sie sind Worte „physisch gewordene Gedanken“ – ganz ähnlich ihren Partituren und Zeichnungen. In ihnen geht es immer wieder um den Zauber, die Macht aber auch die Ohnmacht des gesprochenen Wortes, des geraunten, des gesungenen oder des gedachten, verschwiegenen Wortes. Worte sind gleichsam Bilder und haben einen eigenen Klangraum, ihnen spürt die Künstlerin nach.
Verzaubert durch die Schönheit und den Klang der Worte verfasste Hans Arp das folgende Gedicht:
Worte von Wunderwanderungen. / Worte auf Wanderungen. / Flockenworte. / Lichte Worte entflohener Blumen. / Worte von schwebenden Bergen / oder wenn Sie dies übertrieben finden / Worte von Wolkenbergen. / (...) Unverhofft blühen Worte um Worte auf / mit lichten Blumengesichtern. / (...) Worte die das Traumlicht / eines Schattendaseins sind. / Ein Wortstrauß / der alle seine Blumen / auf einmal sprechen läßt. / (...) Worte die nicht geschrieben oder gesprochen / sondern nur geduftet werden können. / Worte die nur gemalt werden können.
Dieses Gedicht, hier nur in Auszügen zitiert, fand ich aufgeschrieben auf einem schmalen, langen Papier an der Wand im Atelier von Uschi Niehaus. Den dadaistischen Bildhauer und Dichter wörtlich nehmend lotet sie in ihren Arbeiten die Grenzen aus, experimentiert mit Materialien und Formaten, verwendet Kohle und Holzasche, reine Farbpigmente, Fettkreiden und Bleistift, Tusche und Acrylfarben, Messerklinge und Pinsel, Äste und Pflanzenstengel.

Nicht nur die Poesie spielt eine tragende Rolle in ihrem künstlerischen Prozess, auch die Musik, insbesondere die Kompositionen von Johann Sebastian Bach. Wie in der Kunst der Fuge schafft Niehaus in ihren Zeichnungen Notationen zu einem bestimmten Thema und erforscht systematisch dessen Möglichkeiten.
Sowohl das Wort als auch die Musik evozieren Rhythmus und Farben, Klänge und Formen, die aus der sensiblen und lyrischen Verbindung von Wort und Bild sowie Musik und Bild hervorgehen.

Lost in nature – versunken und vertieft in die Natur, aus ihr schöpfend, aus ihrem unendlichen Reichtum und gleichsam aus ihrer Flüchtigkeit im Werden und Vergehen entstehen Arbeiten, die sich in der Aneinanderreihung ihrer Titel selbst wie ein Gedicht lesen.
Anemonen – Wind / Mai – Winterreise / Licht und Fluss / Wohin? / Augenblick am Fenster / Feld - Lost in Nature / 1. Juni - 2. Juni / Wald – Vergissmeinnicht / IndenBirken – Sommer / Mondlicht – Vergissmeinnicht / Lost in Nature – Birke.

Ihr raumgreifendes Tableau „Wind“ – aus zwölf Einzelbildern zusammengesetzt – ist wie eine Fortsetzung der Arbeit „Von heimlichen Rosen“, eine Rückbindung an das Gedicht von Hans Christian Morgenstern. Viele Schichten Farbe sind auf den Nesselstoff aufgetragen, oft beginnt sie mit leuchtenden Farben, bevor sie dann wieder hellere Grau-Weiß-Töne darüberlegt. Sie malt mit flüssiger Acrylfarbe, die sich langsam trocknend mit dem Grund verbindet oder Spuren ziehend über das Bild läuft. Farbschichten und Farbverläufe mischen und überlagern sich, sie lassen Darunterliegendes diaphan durchscheinen. Die kräftig farbigen Kreiskringel in Gelb, Blau und Magenta entwickeln eine unglaubliche Strahlkraft.
Die drei farbigen Bilder sind wohl als ein Triptychon in Reihung entstanden, im Prozess des Arbeitens setzt Niehaus sie mit neun anderen Bildern zusammen, vertauscht sie in Bezug auf die Position ihrer Entstehung und fügt sie zu einem neuen Ganzen, einem Polyptychon zusammen. Über die grau-weißen Bilder, die sich alle in ihren Nuancen unterscheiden, ist sie mit Kohle zeichnend in kurvigen Schwüngen einer großen Geste gegangen. Durch die Vertauschungen entstehen bewusste Brüche, aber dennoch ist das ursprüngliche Ganze zu erkennen. Der Betrachter steigt in dieses Spiel ein, beginnt zu variieren und im Kopf die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen.
Niehaus zitiert Verse, indem sie farbige Blüten rhythmisch auf das Bild setzt, sie zitiert Morgenstern, die Rosen als ein Symbol der Liebe und der Vergänglichkeit. Während sie in dem eingangs genannten Werk „Von heimlichen Rosen“ eher auf den ersten Vers eingeht, ist das Thema dieses Bildes der Wind: Du brichst herein mit rauen Sinnen, / als wie ein Wind in einem Wald - / und wie ein Duft wehst du von hinnen, / dir selbst verwandelte Gestalt. Der Wind als gestaltgebendes Element, hier in der Verwirbelung der Ordnung umgesetzt. So verweisen ihre Rosen nicht nur auf die späten Rosen-Bilder von Cy Twombly, sie sind gleichsam eine Hommage an Claude Monets Nymphéas.

In dem fünfteiligen Tableau Mai behält Niehaus dagegen die Reihenfolge der Bildtafeln bei. Zwischen der Farbspanne einer grau-weißen Tafel, wo die Zeichnung einsetzt, über expressiv abreviative Blütenkürzel bis hin zu einer magentafarbenen Tafel breitet sich das farbige Erblühen des Frühlings im Wonnemonat Mai aus.

Auch die Fotografie spielt in ihrem Werk keine unwesentliche Rolle. Immer wieder fotografiert Niehaus aus dem fahrenden Zug, die Unschärfe der Bewegung verfremdet und überführt das Bild gleichsam in die Abstraktion. Diese Fotografien, wie auch die visuelle Erinnerung an verwischte Fensterblicke – als Durchblick in die Welt oder als deren Spiegelung – fließen in ihre malerischen Prozesse ein. Winterreise ist solch ein Fensterbild. Farben und Linien sind im Wechselspiel, Streifen um Streifen.
Ursprünglich als Querformat gesehen, wechselt sie in das Hochformat und schafft damit eine neue Leserichtung der drei aneinander gereihten Bilder, bricht mit Sehgewohnheiten und evoziert neue Assoziationen. In kleineren Arbeiten, wie zum Beispiel Lost in Nature III, setzt sie diese fotografischen Fensterblicke in Bezug zu schriftzugartigen Schwüngen. Der Fluss der Linie, des Gedankens läuft parallel zu den Bewegungslinien. Im übermalten Text lesen wir in Spiegelschrift: Vom Geheimnis der Dinge im Bild.

Niehaus arbeitet an verschiedenen Bildern gleichzeitig, am Boden, an der Wand oder auf Tischen. So entstehen beim spielerischen Experimentieren auch Entdeckungen, beispielsweise als sie ein Blatt Papier auf einer Unterlage schnitt, Farbe in die Schnitte eindrang und sich bizarr an den vollgesogenen Schnittlinien ausbreitete. In Folge entstanden ihre Schnittzeichnungen, wie IndenBirken II mit Acrylfarbe, Tusche, Bleistift und Messer. Sie schneidet vertikal mit einer Messerklinge in rhythmischen Abständen in das Papier, die Tuschelinien färben diese Schnitte und machen sie sichtbar, dabei wölben sie sich etwas aus der Fläche heraus. Übermaltes aus darunterliegenden Schichten scheint durch, erzeugt Tiefe im Raum, Erinnerungen an  lichtdurchflutete Birkenhaine werden geweckt.

Darüberhinaus zeichnet sie in ihren Papiers decoupés schneidend unmittelbar in bemaltes Papier oder in mit Pigmenten eingefärbten Karton. So entstehen Spiralen, die ältesten Ornamente der Menschheitsgeschichte, die bereits in vor- und frühgeschichtlicher Zeit auftauchten, eine Visualisierung der Unendlichkeit.
Für ihre Arbeit Feld wählt sie die Farbe in ihrer reinsten Erscheinung, sie reibt den Karton mit Farbpigmenten eines monchromen Ultraminblaus ein. Diese Spiralen schneidet sie dann in ein hartes, widerständiges Material, gegen das sie anarbeiten muss, um es zu schneiden. Jedes Absetzen der Schere wird sichtbar. Es ist der Schnitt direkt in die Farbe, eine rhythmische Bewegung – wie sie Matisse uns vorführte.

Das Licht überstrahlte den Himmel der Abenddämmerung, als ich Luckenwalde wieder verlies – am Himmel eine Zeichnung von Streifen, leuchtend horizontal übereinander liegend, nur dazwischen wie von Menschenhand gezogene Linien, die sich langsam auffächern und verschwinden – so sahen sie aus, einige der Zeichnungen von Uschi Niehaus . Ewig sich neu erfindend, Formen und Linien im gegenseitigen Wechselspiel, Linien in der Tiefe des bildnerischen Raums. Lost in Nature.